Das Gerichtsrathaus

Mit unserem alten Rathaus wäre das nie passiert - daß es verwechselt worden wäre. Mit unserem neuen passiert es aber. Ich holte Sybille vom Bahnhof ab, der auch nicht mehr lange das sein wird, was er mal war. Ich steuere die Ringstraße auf die Veerßer Straße zu und höre Sybilles Frage: „Ist das Euer Rathaus?" Dabei hatte sie in Richtung altes Amtsgericht genickt, das in seinem derzeit verjüngenden Kleide des Bau- und Malgerüstes den Charme des letzten Jahrhunderts in das kommende zu retten versucht. „Nein," sage ich, verweise Sybilles Blick weg vom Amtsgericht hin zur Neubaufront des Neu-Rathauses, das daneben ist. Ich meine, dessen Örtlichkeit gleich daneben ist. Was vom neuen Rathaus neben dem Amtsgericht zu sehen ist, verfehlt nicht seine Wirkung. Jedenfalls nicht auf Sybille, die außer auf Besuch bei mir nebenher Regierungsdirektorin ist. Genauer: Sie ist Dezernentin für Hochschulneubau. „Nein," seufzte Sybille sybillinisch (das heißt noch mehr als zweideutig), „Nein musste das sein? Euer neues Rathaus sieht doch aus wie jede andere neue Verwaltungsklitsche." Ich fühle mich bei Sybille spontan rüder Kritik „Klitsche" ähnlich wie mit 15 Jahren, wo ich mein Elternhaus als vergleichsweise das schlimmste und die Elternhäuser der Freunde als Paradies empfand - außer, man kritisiert mein Elternhaus. Dann ergriffen mich merkwürdige Kräfte, mit denen ich mich die unmöglichen eigenen Erzeuger plötzlich und zu meiner eigenen Überraschung verteidigen hörte. So auch mit dem neuen Rathaus. Ich hielt deshalb auch extra auf dem Herzogenplatz, um Sybille die Vorderfront, die Hauptfront, das Antlitz unseres neuen Rathauses zu zeigen, das mir mit seiner halbrunden Nase nun doch verteidigenswert erschien. Das war ein weiterer Fehler. Sybille wurde fachlich und erzählte etwas von Missrelationen zwischen Seiten und Front speziell dieses Rathauses, vom ganz allgemein in der Gegenwartsarchitektur völlig missachteten goldenen Schnitt. „Und“, schloss sie spitz „wie begründet Ihr diese architektonische Profilneurose vor Euren 30 000 Einwohnern?" Und sie setzte noch einen drauf: Ob ich überhaupt nicht sähe, daß das Ganze ein imitatorisches Fragment zum Beispiel vom (Gebäude) Komplex der Lüneburger Bezirksregierung sei? Nur mit schlechteren Materialien und mit weniger Profil? Dagegen das alte Amtsgericht...Celle", sagte Sybille später beim Abendessen, „Celle ist umgekehrt als Ihr. Da ist sogar das Gefängnis für die, die mal kurz aus dem Bahnhof schauen, so schön, daß es für das Schloss gehalten wird. Während Ihr ein Amtsgericht habt, das immerhin ein hübscheres Rathaus abgegeben hätte. Aber nein!" Mir fiel in diesem Augenblick meine Bildung ein und versuchte Sybille damit vom Thema Rathaus durch die Information abzulenken, daß über dem Tor zur Celler Strafanstalt ein Schild hing und auf dem steht: „De mente captis" („für die im Geist Befangenen", womit die geistig Kranken gemeint waren, für die das Haus auch gebaut worden war). Doch dies war der dritte Fehler. Das passt", grinste Sybille, „das montiert Euch mal um und über Euer Gerichtsrathaus.“

19. November 1996